“...und vergib uns unsere Schuld...”

  ■ Wir alle kennen ja wohl jenen Abschnitt des Evangeliums, der am 13. Sonntag nach Pfingsten in der hl. Messe vorkommt und in welchem von der Heilung von zehn Aussätzigen durch Jesus berichtet wird: “Auf der Reise nach Jerusalem” zog Jesus “zwischen Samaria und Galiläa hin. Als Er in ein Dorf ging, kamen Ihm zehn aussätzige Männer entgegen. Sie blieben von ferne stehen und riefen mit erhobener Stimme: ‘Jesus, Meister, erbarme dich unser!’” (Lk 17, 11-13)
Diese Männer waren sich des bitteren Ernstes ihrer Lage sehr wohl bewusst! Sie befanden sich praktisch ständig in Lebensgefahr, da sie von einer Krankheit befallen waren, die in vielen Fällen tödlich verlaufen ist. Und weil diese Lepra ansteckend war, sind sie abgesondert worden und mussten sonstige Menschenansammlungen unbedingt meiden. Es darf berechtigterweise angenommen werden, dass sie ebenfalls schon von Wundern und Heilungen gehört hatten, welche Jesus während Seiner Predigttätigkeit in Palästina vollbracht hatte.
Sich in einer hoffnungslosen Situation befindend gingen sie nun in einem Dorf auf Jesus zu und trugen Ihm aus einer gewissen Distanz “mit erhobener Stimme” ihre flehentliche Bitte zu: “Jesus, Meister, erbarme dich unser!” Damit drückten sie also nicht nur ihre gesamte Not aus, in welcher sie sich befanden, sondern auch die Hoffnungslosigkeit und vielleicht sogar die Verzweiflung, die sie zutiefst verunsicherten und lähmten.
“Jesus, Meister, erbarme dich unser!” Wir alle sollten uns mal Zeit und Muße nehmen, um in aller Ruhe diese erschütternden Worte des inständigen Gebetes auf uns wirken zu lassen. Verinnerlichen wir die gewaltige Not dieser zehn Männer und versuchen wir nachzuvollziehen, wie inbrünstig ihr flehentlicher Ruf gewesen sein muss! Sie wussten keinen anderen Ausweg in ihrer verzweifelten Lage und setzten nun ihre ganze Hoffnung auf den Herrn, der ja zuvor auch schon eine ganze Reihe anderer Kranken geheilt bzw. Besessene vom Teufel befreit hatte.
Zugleich wird uns dann aber auch bewusst werden, dass auch wir alle genug Grund haben, auf ähnliche Weise zu beten! Zwar befinden wir uns vielleicht nicht in akuter Lebensgefahr, was nämlich unsere physische Existenz angeht. Aber wir alle leiden doch auf die eine oder andere Art und Weise unter einer anderen Art von Lepra - unter der Sünde, welche ja gewissermaßen den (geistigen) Aussatz der Seele darstellt bzw. sich so auswirkt!
Und wie Lepra als Krankheit den biologischen Leib nach und nach, Glied für Glied zersetzt und vernichtet, um schlussendlich zum Tod zu führen, so ähnlich verseucht und vergiftet die Sünde als bewusste Missachtung des heiligen Willens Gottes Schritt für Schritt unseren Geist und tötet in uns das übernatürliche Leben, welches uns anfänglich mit dem hl. Sakrament der Taufe geschenkt worden ist! Haben wir denn nicht bereits selbst die bittere Erfahrung machen müssen, wie sehr sich geistige Bitterkeit und Verzweiflung unser bemächtigen, wenn wir der einen oder anderen Versuchung nachgeben und in eine vor allem nennenswerte bzw. schwerwiegende Sünde einwilligen.
Es stimmt schon: wo Gott durch die Sünde im Herzen eines Menschen auf die eine oder andere Weise (bewusst) ausgeschlossen wird, da können nicht echter Glaube, lebendige Hoffnung und göttliche Liebe wohnen! Statt dessen ist dann ein solches Herz von solchen “Früchten” erfüllt wie z.B. “Unzucht, Unkeuschheit, ... Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Hader, Zwietracht, Spaltungen, Parteiungen” (vgl. Gal 5, 20). Die Sünde ist nie harmlos, sondern wirkt immer auf irgendeine Weise zerstörerisch.
Und der erste Schritt auf dem Weg der inneren Umkehr ist die schonungslose Erkenntnis bzw. das Eingeständnis der eigenen Schuld und dann die aufrichtige Bitte um Vergebung. Erkennen wir also, wie viel wir Gott eigentlich immer um Verzeihung zu bitten haben! Das bedeutet nicht, dass wir alle unbedingt böse Menschen sein und uns ständig nur großer Verbrechen anklagen müssten. Nein, es heißt, dass wir alle vor Gott Sünder sind und somit jeden Grund haben, Ihn ehrlich um Verzeihung zu bitten. Denn je mehr jemand Gott erkennt, desto mehr sieht er auch seine eigene sittliche Gebrechlichkeit und erblickt, wie sehr wir auf Seine Barmherzigkeit angewiesen sind!
“Jesus, Meister, erbarme dich unser!” So wollen auch wir wie jene Männer inständig rufen, weil wir um die negativen Folgen unserer Sünden wissen und uns ohne das Erbarmen Gottes geistig in ernsthafter Gefahr befinden. Haben wir denn bisher in unserem Leben nicht schon Seine weisen Eingebungen mutwillig missachtet und uns auch über die klugen Anregungen unserer Mitmenschen hinweggesetzt? Haben wir uns denn nicht schon leichtfertig verschiedenartigsten Versuchungen ausgesetzt bzw. absichtlich eine Gelegenheit zur Sünde gesucht? Und wie oft haben wir gesündigt, obwohl wir genau um die Verwerflichkeit der betreffenden verkehrten Denkweise oder Tat wussten bzw. sie billigend in Kauf genommen haben? Setzen wir denn in unserem sittlichen Kampf immer unsere volle und ganze Energie ein, um Gottes Gebot möglichst vollkommen zu erfüllen und die Sünde komplett auszuschließen? Wer da nicht sehen sollte, wie viel Anlass wir haben, Gott um Vergebung zu bitten, müsste ja geradezu als blind bezeichnet werden.
“Jesus, Meister, erbarme dich unser!” Bemerkenswert ist, dass diese Bitte in der Pluralform gehalten ist. Jene aussätzigen Männer baten um Gottes Barmherzigkeit nicht nur jeweils für sich selbst, sondern zugleich auch für die jeweils neun anderen! Sie waren alle zehn von jener furchtbaren und lebensbedrohlichen Krankheit betroffen und schlossen (wenigstens indirekt) auch die jeweils anderen neun Leidensgenossen mit ein. Und wie das eigene Leid sensibel macht für die Not eines anderen, so wollen auch wir erkennen, dass wir jeweils nicht die einzigen sind, die von Gottes Gnade abhängen, sondern dass unsere Mitmenschen ebenfalls sittlich gebrechlich sind und somit genauso wie wir auf die göttliche Barmherzigkeit angewiesen sind! Wir sitzen ja in dieser Hinsicht alle in demselben Boot, zumal uns der hl. Apostel Paulus ausdrücklich aufruft: “Einer trage des anderen Last. So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.” (Gal 6,2);  “Freut euch mit den Freuenden und weint mit den Weinenden.” (Röm 12,15)
So können und wollen wir in unser Gebet z.B. ausdrücklich auch unsere eigenen Familienangehörigen, Freunde und Bekannten einschließen, Er möge sich nämlich unser aller erbarmen! Gedenken wir darin auch unserer Kinder und Jugendlichen, welche heute doch einer erhöhten Macht der Verführung ausgesetzt sind, den rechten Weg zu verlassen. Beten wir inständig für die Bekehrung der Sünder, wo doch in der neueren Zeit so viele vom Weg des Heils abkommen. Vergessen wir auch nicht, den Herrgott in allen Anliegen unserer Kirchengemeinde und der ganzen katholischen Kirche anzuflehen, welche doch gegenwärtig eine furchtbare und so bisher nie da gewesene Krise durchmachen muss. Wir alle befinden uns in einer großen Not, weshalb wir ja voll Vertrauen rufen: “Jesus, Meister, erbarme dich unser!”
Und auch gerade wenn wir, im Monat Oktober verstärkt, den Rosenkranz beten, denken wir an alle diese und sicherlich auch noch weitere dringende Anliegen und bitten wir die Muttergottes, die doch ihrem göttlichen Sohn wegen ihrer außergewöhnlichen und heroischen Glaubenstreue am nächsten steht, auch für uns Fürsprache einzulegen: “Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns, Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.” Es braucht zu jeder Zeit großmütige und opferbereite Seelen, die über den Tellerrand der eigenen Sorgen und Probleme hinausschauen und auch für die anderen - das Volk, die Gesellschaft und die Kirche - Gott um Gnade und Barmherzigkeit anflehen!
■ Aber wenn wir schon Gott bitten, uns unsere eigene Schuld zu vergeben, und in dieses Gebet auch unsere Mitmenschen einschließen, dann sollten wir aber auch selbst bereit sein zu vergeben, sollte sich jemand gegen uns etwas zuschulden kommen lassen. Denn wenn wir für uns selbst Erbarmen erwarten, dann sollten wir auch unsererseits den anderen gegenüber Erbarmen üben!
Wir beten ja wohl jeden Tag mehrere Male im Vaterunser, welches uns Jesus ausdrücklich zu beten gelehrt hat: “...und vergib uns unsere Schuld”. Vergessen wir dabei nie, wie dieses Herrengebet unmittelbar darauf fortgeführt wird: “...wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”! Somit erscheint unsere Vergebungsbereitschaft ausdrücklich als eine Art Bedingung für das Erlangen der Vergebung Gottes. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, dem zwar auf der einen Seite von seinem König seine hohe Schuld vergeben worden ist, der sich aber seinerseits nicht seines Mitknechtes erbarmen wollte, obwohl dieser ihm wesentlich weniger schuldete (vgl. Mt 18,23-34), möge uns da zur Warnung dienen.
Ja, wir wissen, dass auch unsere Vergebung nur dann sozusagen wirksam sein kann, wenn der, der sich gegen uns versündigt hat, seinen Fehler einsieht und uns dann auch unmissverständlich um Verzeihung bittet. Denn für den zwischenmenschlichen Bereich trifft ja ebenfalls der eherne Grundsatz zu: wo keine Einsicht und Reue, da auch keine Vergebung!
Aber hört man denn bisweilen nicht von solchen Fällen oder erlebt man Situationen, in welchen jemand keine Vergebung gewährt wird, obwohl dieser seinen Fehler einsieht und offenherzig bekennt? Und statt diesem Menschen, der ja seine Schuld ehrlich bereut und sich dafür ausdrücklich entschuldigt, in christlicher Gesinnung großherzig die Vergebung zu gewähren, wird auf ihm kleinkariert herumgehackt bzw. auf ihn noch weiter verbal eingeschlagen. Oder man sagt zwar formal, man vergebe ihm, aber verhält sich danach dennoch ziemlich nachtragend, als ob man vorher nicht selbst eventuell gesprochen hätte: “vergeben und vergessen”!
Ob nun diese fehlende Vergebungsbereitschaft durch menschliche Antipathie, gegenseitige Animosität, falsches Konkurrenzdenken, verletzten Stolz oder primitive Hartherzigkeit zu erklären wäre, ändert dies nichts an der Tatsache, dass man sich da alles andere als vorbildlich verhält. Ein solcher Mensch sollte doch bitte die folgenden Worte in jenem Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht auf sich beziehen: “‘Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?’ Voll Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte.” (Mt 18, 32-34)
So hören wir auch an anderen Stellen des Evangeliums entsprechende warnende Worte Jesu: “Da kam Petrus heran und fragte Ihn: ‘Herr, wenn mein Bruder gegen mich fehlt, wie oft muss ich ihm vergeben? Bis zu siebenmal?’ Jesus antwortete ihm: ‘Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.’” (Mt 18, 21f); “Vergebt, so wird euch vergeben.” (Lk 6,37); “Wenn dein Bruder sich gegen dich verfehlt, so weise ihn zurecht. Tut es ihm leid, so vergib ihm. Und sollte er sich siebenmal am Tag gegen dich verfehlen, und siebenmal wieder zu dir kommen und sagen: Es tut mir leid, so vergib ihm.” (Lk 17,3f) Und der hl. Apostel Paulus erläutert: “Alle Bitterkeit und Heftigkeit, Zürnen, Zanken und Lästern, überhaupt alle Bosheit bleibe fern von euch. Seid vielmehr gegeneinander gütig und barmherzig und vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat.” (Eph 4,31f)
Gestehen wir es uns doch ein: wenn man sich aus welchem Grund auch immer noch nicht durchgerungen hat, einem um Vergebung bittenden Mitmenschen ehrlich zu verzeihen, bleiben doch im eigenen Herzen eine gewisse Unruhe und Bitterkeit zurück. Man merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist und leidet im Grunde seines Herzens selbst darunter, auch wenn man sich nach außen hin oft künstlich einredet, warum man denn noch nicht vergeben wolle und solle. Man ist innerlich nicht frei oder von Freude erfüllt, sondern ist auf die eine oder andere Art und Weise etwa von solchen negativen Kräften wie “Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Hader, Zwietracht” (vgl. Gal 5, 20) in Beschlag genommen. Und dies trägt seinerseits oft noch weiter dazu bei, dass man sein eigenes Verhalten noch weniger in kritischer Hinsicht unter die Lupe nimmt und die eventuell vorhandenen eigenen Fehler erkennt und beseitigt.
Und erst wenn man die Kraft und den Großmut aufbringt (um die man auch beten soll!), von Herzen zu verzeihen, wird nicht nur das eigene Auge im übertragenen Sinn “gereinigt” bzw. objektiv “geschärft”, sondern es kehren innerer Friede und übernatürliche Freude ins eigene Herz ein bzw. zurück! Ganz zu schweigen von der gottgewollten Versöhnung, die man mit dem oder den betreffenden Menschen feiern kann...! Man handelt dann eben “gütig und barmherzig ... wie auch Gott euch in Christus vergeben hat.” (Eph 4,32) Auch auf diese Weise wird sich dann an einem die betreffende Seligpreisung Jesu erfüllen: “Selig die Friedensstifter! Sie werden Kinder Gottes genannt werden.” (Mt 5,9)
Und sollten wir jemand kennen, der uns auf welche Weise auch immer irgendein Unrecht zugefügt hat und dies eben noch nicht einsieht und um Verzeihung bittet, dann erwecken wir schon jetzt im voraus wenigstens die ehrliche Bereitschaft, diesem Menschen zu vergeben, sollte er den ersten ernsthaften Schritt auf diesem Weg der Umkehr machen. Verschließen wir unser Herz nicht grundsätzlich vor einem Menschen, der Unrecht tut, sondern beten wir für ihn aufrichtig in der Hoffnung, dass er seinen Fehltritt einsieht und auch seinerseits Versöhnung mit uns sucht. Denn nur die Vergebung ist die Kraft, die die Welt sozusagen zusammenhält, weil ja auch Gott einem reuigen Sünder bereitwillig verzeiht, zu welchen mit Ausnahme Mariens wohl alle anderen Menschen zu zählen sind.

P. Eugen Rissling


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